Dr. Werner Knurr – Ansprache anlässlich der Stolpersteinverlegung am 23.10.2017
Ich bin sehr glücklich, heute hier sein zu können. Für die Einladung zu einer Rückkehr an meinen Geburtsort möchte ich mich herzlich bedanken. Es ist für meine Familie und mich eine Ehre heute hier sein zu können.
Mein besonderer Dank gilt Frau Irmtraut Hausmann für die Stolperstein Patenschaft und Frau Christiane Messner für ihren Einsatz und ihr tiefes Verständnis bei der Recherche zu meiner Familie.
Vielen Dank auch an Günther und Elfriede Lübbers für alle Unterstützung und den hilfreichen Kontakt über all die Jahre. Ich freue mich, Euch mit Beauly und Enya endlich persönlich kennen lernen zu können.
Schließlich auch vielen Dank an meine Freunde Tom und Jeanette Eilers, die Goldie und mich auf dieser Reise begleiten und an diesem für uns bedeutsamen und bewegenden Anlass heute bei uns sind.
Für meine Probleme mit der deutschen Sprache bitte ich um Verständnis und Geduld. Es war für mich nicht einfach, meine Familiengeschichte auf 20 Minuten zu verdichten. Einige von den hier Anwesenden haben mit ihren Familien vielleicht eine ähnliche Geschichte erlebt.
Es war im Jahr 1963. Ich war Captain in der US Air Force. Ich fuhr am Rhein entlang Richtung Aurich. Ich trug weder meine Uniform noch ein Namensschild und hatte kein Zimmer im Piquerhof reserviert. Als ich mich dort an der Rezeption anmelden wollte, tippte mir jemand auf die Schulter und sagte: „Verzeihung, sind sie nicht Hermann Knurr?“ Ich antwortete „Nein, Ich bin Werner, der Sohn von Erich. Hermann ist mein Onkel!“ Stellen Sie sich meine Überraschung vor! Nach 25 Jahren erkannte mich der Hotelbesitzer als ein Mitglied der Familie Knurr! Die drei Männer waren Schulkameraden gewesen. Ich sah meinem Onkel ähnlicher als meinem Vater.
Etwas später betrat ich das ehemalige Knurr Geschäft, das die Diermanns gekauft hatten und nun ein Obstgeschäft war. Im 3. Stock fand ich zu meiner Überraschung noch die Kleiderbügel und –haken von meinem Opa Lippmann. Das traf mich ins Herz und ich musste weinen. Das war meine erste Rückkehr nach Aurich.
14 Jahre später, im Jahr 1977, kam ich erneut nach Aurich um meinen vier Kindern und meiner wunderbaren Frau Goldie zu zeigen, wo ich geboren bin und wo sich meine Wurzeln befinden.
Ich möchte jetzt in das Jahr 1938 zurückgehen, das Jahr unseres Exodus. Meine liebe Mutter Melanie, die ich in seliger Erinnerung behalte, hatte die Weitsicht, unsere Pässe bereits ein Jahr zuvor zu beantragen. Wie prophetisch! Aber sie war noch in anderer Hinsicht prophetisch. Ebenso wie viele jüdische Männer wollte auch mein Vater zunächst allein nach Amerika auswandern, um Arbeit und Wohnung zu finden und uns dann später nachzuholen. Meine Mutter erklärte damals: „Wenn Du uns verlässt, wirst Du uns nie wieder sehen!“ Sie sah das Menetekel an der Wand! Mein Opa Lippmann weigerte sich, seinen Pass zu beantragen und meinte, „Einem alten Mann wie mir werden sie nichts tun!“ Wir verließen Aurich nachdem uns ein hilfreicher Polizist gewarnt hatte, dass die Verhaftung meines Vaters kurz bevor stand.
Es gab Probleme mit unseren Visa. Damals war ich fast drei Jahre alt. Mein Vater musste aus Holland zurück nach Deutschland und dort zwischen Hannover und Hamburg hin- und herfahren um Visa für Belgien zu erhalten. Schließlich gelang es ihm, Visa für Frankreich zu bekommen. Während wir auf die Rückkehr meines Vaters warteten, mussten wir auf einem Bahnhof und dann in einem jüdischen Obdachlosenheim übernachten. An der holländischen Grenze passierten wir schwer bewaffnete Grenzposten. Eine Situation voller Angst und Stress.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris fuhren wir weiter nach Le Havre und gingen dort an Bord der SS Manhattan. Wir erreichten den Hafen von New York nach einer 7-tägigen Fahrt über den Atlantik. Da ich noch so jung war, kann ich mich kaum an die Überfahrt erinnern, nur daran, dass ein Waschlappen über Bord ging und meine Mutter und ich ziemlich seekrank waren.
Wir reisten zwar Erster Klasse, die Karten hatten wir lange zuvor gekauft, durften aber nur wenig Geld bei uns führen, gerade mal 100 Mark (25 Dollar pro Erwachsenen und nichts für ein Kind). Bevor wir Aurich verließen hatte mein Vater in einem Armenviertel Aurichs das Bargeld, das er nicht mitnehmen durfte, an die Leute verteilt.
Zum Glück war es uns möglich gewesen, unsere Möbel vor unserer Abfahrt zu verschicken.
Versuchen Sie einmal sich vorzustellen, was es bedeuten muss, wenn man sich von seinem Vater verabschieden muss mit der Gewissheit ihn nie wiederzusehen, wenn man von seinem Land, seinem Vaterland, Abschied nehmen muss, von seiner Muttersprache, seiner Synagoge, seinem Geschäft, einfach von allem und jedem, was einem in der Welt etwas bedeutete hat. Ich glaube, das könnte ich nicht über mich bringen. Ich hätte einfach nicht den Mut und die Kraft, das zu tun.
Als wir die Freiheitsstatue erblickten, weinten meine Eltern.
Als wir das Schiff verließen, erwarteten wir Cowboys und Indianer und waren verängstigt, als wir den ersten Farbigen sahen.
Wir kamen in New York am 27. Oktober 1938 an, genau zwei Wochen vor der Reichspogromnacht.
Der Einwanderungsbeamte fragte meinen Vater, ob wir unseren Namen ändern wollten. Mein Vater erwiderte: „Es ist schon nur eine Silbe. Was soll ich daraus noch machen?“ Darüber musste mein Vater herzlich lachen.
Einige Tage später fuhren wir mit dem Zug nach Baton Rouge, Louisiana. Vaters Schwester und ihr Mann, Erich Sternberg , waren schon zwei Jahre zuvor dorthin aus Aurich geflohen und hatten dort ein Kaufhaus erworben. In Aurich war Sternberg unser Konkurrent. Die beiden und Dr. Melville Sternberg hatten für uns eidesstattlichen Erklärungen unterschrieben, ohne die wir nicht hätten in die USA einreisen können.
Papa arbeitete im Warenlager für seinen Schwager. Sie stritten sich und mein Vater wurde entlassen.
Schon vor der Emigration hatte mein Vater in der sicheren Annahme, dass es ohne Englischkenntnisse schwierig sein würde, eine Arbeitsstelle zu finden, eine sechswöchige Fußpfleger Ausbildung absolviert. Er eröffnete eine entsprechende Praxis in Louisiana und wurde prompt von der Polizei verhaftet, da er keine Lizenz hatte. Da er aber kein Englisch sprach, konnte er auch nicht die Prüfung ablegen. Er suchte also nach einem Bundesstaat, in dem er auch ohne Lizenz praktizieren konnte. Es gab drei. Am dichtesten lag Alabama. Er nahm also den Zug nach Montgomery und fand die dortige jüdische Gemeinde gleich sehr ansprechend. Also ließen wir uns dort nieder.
Papa arbeitet dort als Fußpfleger, konnte damit aber nicht den Lebensunterhalt verdienen, da er nur einen oder zwei Dollar für eine Behandlung verlangte. Er besaß die besten und einzigen elektrischen Behandlungsinstrumente, was ihm den Neid seiner Kollegen einbrachte.
Papa wurde von der“ Jewish Federation“ finanzielle Unterstützung angeboten, die er aber ablehnte. Er war dafür zu stolz und meinte nur: „Besorgt mir einfach einen Job!“
Er arbeitete in der Nachtschicht auf einem Schrottplatz für 13 Dollar die Woche. Davon schickte er noch jede Woche 1-2 Dollar zur Schweizer Botschaft in Havanna, Kuba, für seinen Opa Lippmann, der noch immer in Deutschland lebte. Wir bezweifeln, dass er je etwas von dem Geld erhalten hat.
Das Leben war hart. Papa war 38 Jahre alt, Mama 28. Am Sabbat konnte er es sich nur leisten, Mama die 10 Cent Zitronen Drops mitzubringen, statt der teuren Bonbons wie früher in Aurich. Das waren anrührende Momente.
Um Geld zu sparen gingen wir zu Fuß in die Stadt, anstatt für 5 Cent mit dem Bus zu fahren und wir teilten einen 5 Cent Hershey Schokoladenriegel durch drei. Wir waren wirklich sehr arm!
Papa hatte verschiedene Jobs, zum Beispiel arbeitete er für 5 Dollar am Tag in einem Schuhgeschäft, bevor er Arbeit bei Solomon Brothers Wholesale Dry Good bekam.
Im Jahr 1945 lernte mein Vater den Fleischer Leo Glick kennen, der über etwas Geld verfügte. Papa verfügte über die Geschäftserfahrung. Also gründeten die beiden zusammen ein Geschäft im schwarzen Viertel der Stadt: „Glick and Knurr General Merchandising“. Glicks Namen setzen wird als ersten, weil er „Glück“ bedeutet. In dem Geschäft wurde alles verkauft: Lebensmittel, Früchte, Gemüse, Fleisch, Haushaltswaren, Medizin, Bier und Kleidung. Der Laden hatte 7 Tage in der Woche geöffnet, 12 Stunden jeden Tag, 14 am Samstag und 6 am Sonntag. Nach einigen Jahren starb Mr Glick und Papa zahlte die Witwe aus. Wir hofften, dass uns das „Glick“ dennoch treu bleiben würde.
Erst 1953, während meines ersten Studienjahres an der University of Aabama, konnten wir es uns leisten, ein Haus zu kaufen. Es war mit einer hohen Hypothek belastet. Unser erstes Heim in Amerika! Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie innerlich bewegt Papa war, als er die Vertragsurkunde für das Haus in den Safe des Ladens legte. Er hatte bereits 1950 im Alter von 50 Jahren seinen ersten Herzinfarkt erlitten und war Gott dankbar, dass er diesen Tag erleben durfte.
Papa trug zur Arbeit immer Anzug und Schlips, immer ein Gentleman. Mama arbeitet Tag für Tag an seiner Seite. Es war ihr hoch anzurechnen, dass sie mit über 40 Jahren noch ihre Führerscheinprüfung ablegte. Papa arbeitete jeden Tag in dem Geschäft bis er 1964 im Alter von 63 Jahren verstarb. Etwa zwei Jahre nach seinem Tod erlitt Mama einen schweren Schlaganfall. Sie lebte noch 13 Jahre in einem Pflegeheim und starb im Alter von 67 Jahren. Ich bin mir sicher, dass die schweren Belastungen der Auswanderung zu ihrem schon so früh einsetzenden gesundheitlichen Verfall beigetragen haben.
Während des 2. Weltkriegs wollte Papa in die US Armee eintreten, wurde aber abgelehnt, weil er zu alt war und ein Kind zu versorgen hatte. Das FBI kontaktierte ihn, um für eine mögliche Invasion am D-Day Informationen über den deutschen Küstenbereich zu erhalten. Andere Optionen für eine Landung waren die Normandie, Calais und Le Havre. Auf diese Weise diente er seiner neuen Wahlheimat. Das FBI bat ihn auch um die Etiketten aus seinen in Deutschland hergestellten Anzügen, die dann in die Anzüge von amerikanischen Spionen eingenäht wurden.
Ich musste für drei Jahre bis zum Alter von 7 Jahren in den Kindergarten gehen um English zu lernen. Das brachte ich dann zu Hause meinen Eltern bei. Meine Mutter sprach schon bald ein perfektes Englisch mit nur leichtem Akzent, aber mein Vater sprach nur ein gebrochenes Englisch garniert mit vielen Kraftausdrücken.
Im Jahr 1943 wurde meine Schwester Evelyn Gerta geboren – genau zu dem Zeitpunkt waren mein Vater und ich im Kino und sahen „Casablanca“ mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann. Wie peinlich!
Ein besonders komisches Ereignis war es, als Papa ein Telegramm von Göbbels erhielt, in dem er die Rückkehr meines Vaters nach Deutschland verlangte, damit er seinem Vaterland dienen könne. Er war 1918 in die Deutsche Armee eingezogen worden und gerade an die Front marschiert, als der Waffenstillstand unterzeichnet wurde. Ich nehme an, „Knurr“ ist kein typisch jüdischer Name. Mein Vater jedenfalls zerknüllte das Telegramm und warf es in den Kamin. Heute wünsche ich mir, ich hätte das Papier aufgehoben. Ich hätte mich vielleicht viel eher zur Ruhe setzen können!
Im Jahr 1944 wurden wir stolze amerikanische Staatsbürger!
In dem Jahr sah ich meinen Vater zum ersten Mal weinen. Er hatte ein Telegramm vom Roten Kreuz erhalten, das ihn darüber informierte, dass sein Vater, Lippmann, 1942 gestorben war. Diese Szene hat sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt.
Als Kind und später als Jugendlicher hatte ich Albträume, in denen ich auf einen Bahnhof voller Sturmsoldaten blickte. Dieser wiederkehrende Albtraum und die Worte meines Vaters „Halte deinen Pass in Ordnung, einen Koffer gepackt und etwas Reisegeld bereit, da der Holocaust jederzeit überall wieder geschehen kann“ blieben mir immer bewusst und prägten den Rest meines Lebens.
Auch in den dunkelsten und schwierigsten Tagen war für meine Eltern klar, dass ihr Werner an der Universität studieren würde. Es war für sie von vorrangiger Bedeutung, dass ich eine gute Ausbildung erhielt. Während meiner gesamten Ausbildung besuchte ich öffentliche Schulen in Alabama und wurde schließlich im Jahr 1960 voll ausgebildeter Arzt.
Im Jahr 1961, als die Berliner Mauer errichtet wurde, wurde ich als Captain in die US Air Force eingezogen. Welch kolossale Ironie der Geschichte im Hinblick auf unsere Familie: Wir mussten gezwungenermaßen aus Deutschland fliehen und nun war ich einberufen, um Berlin vor den Sowjets zu schützen! Ich war froh, meinem neuen Heimatland dienen zu können, in Dankbarkeit und Stolz und als Rückzahlung einer großen Schulden – eine edle Pflicht!
Nach meiner Entlassung aus der Air Force wurde ich Radiologe und praktizierte zunächst in Pennsylvania und später in Florida. Mit 70 Jahren ging ich in den Ruhestand und zog mit meiner Frau Goldie nach Aspen, Colorado und dann in die Berge nach Roaring Fork Valley.
Ich hatten vier Kinder. Der Sohn Erich Lippmann Knurr, nach meinem Vater und Großvater benannt, starb schon im Alter von 49 Jahren. Vielen Dank Elfriede für das wunderschöne Gedicht, das Du mir bei der Nachricht von seinem Tod geschickt hast.
Goldie hat zwei Kinder, von denen eines in der Israelischen Armee dient. Alle unsere Kinder und Enkelkinder haben eine gute Ausbildung erhalten – ein Zeichen für den Einfluss unseres kulturellen Erbes.
Wir hatten sieben Enkelkinder, von denen eines, Joshua, im Alter von zehn Monaten starb. Meine Schwester Evelyn starb im Alter von 70 Jahren.
Wir waren immer und sind auch heute eine stolze Familie mit dem Motto „Klein, fein, rein“.
Heute sind Goldie und ich aktive Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Aspen, Colorado. Goldie arbeitet mit im Vorstand der Gemeinde, ich helfe gelegentlich als Rabbi oder Kantor aus. Aufgrund meines Alters und meines Engagements werde ich oft als Patriarch der Gemeinde angesehen. Wir unterrichten beide Hebräisch und bereiten die Kinder auf ihre Bar und Bat Mitzvah, ihre religiöse Mündigkeit, vor. Wir haben auch Englisch als zweite Fremdsprache für Latinos unterrichtet.
Wie Sie sich sicher vorstellen können, sind wir sehr aktiv in Organisationen, die gegen Massenausweisungen kämpfen.
Am Ende möchte ich noch ein kurzes Lied singen, das mir meine Mutter im Kindergartenalter beigebracht hat. Sie sind herzlich eingeladen mit mir zu singen!
Ich wünsche Ihnen allen Gottes Segen und – Gott segne die Vereinigten Staaten von Amerika!
„Kommt ein Vogel geflogen“
