| Grete Samson wird am 1.06. 1922 in Aurich geboren als das dritte Kind der Eltern Abraham Josef und Frieda geb. Wolff aus Sandhorst. Die Familie wohnt in der Wallstraße 22 und zuletzt kurzzeitig im Haus Emder Straße 16. Die Familie ist sehr religiös und beachtet die Gesetze der Religion. Um sie herum lebt viel weitere Verwandtschaft der beiden Elternteile. Die Familie Samson will in die USA auswandern. Sie hat aber keine Verwandten dort, welche die zur Ausreise nötigen Bürgschaften (Affidavit) stellen können. Ihrer Schwester und ihrem Bruder gelingt die Flucht nach England.
Grete hat immer die Neigung, anderen zu helfen. Sie träumt davon, Krankenschwester zu werden. Sie wird im Juli 1938 in einer Krankenschwestern-Schule im jüdischen Krankenhaus in Berlin N65 in der Iranischen Straße 2 angenommen. Sie verlässt ihr Zuhause zum ersten Mal. Einige Monate ist sie glücklich. Sie besteht nach 1½ Jahren ihre Prüfungen [es waren überhaupt die letzten des Krankenhauses] vor Ärzten mit auf dem Mantel genähtem Hakenkreuz. Ihre Noten sind ausgezeichnet und sie schreibt es ihren Eltern, welche zu der Zeit auch in Berlin wohnen [Rosenthaler Straße 40-41].
Sie arbeitet noch ein Jahr im Jüdischen Krankenhaus. Für mehrere Wochen wird sie zum Bahnhofsdienst bestimmt. Dorthin, zum Bahnhof – vermutlich Grunewald – werden die zur Deportation bestimmten Menschen mit Lastwagen gebracht. Grete Samson soll ihnen das Gepäck abnehmen, Verpflegung geben und dafür sorgen, dass schnell 500 Personen in einen Güterzug einsteigen. Und sie wird Zeugin der Angst und Panik der Familien, die wie Vieh aufs Engste in Waggons gepfercht werden.
Nach drei Monaten kommt sie wieder in ihren Krankenhausdienst zurück. Von Zeit zu Zeit, ab Herbst 1942, kommen Gestapoleute, auch Eichmann mehrmals, gehen durch die Krankensäle und bestimmen Kranke, welche anzuziehen und auch mitsamt Personal auf Transport zu schicken sind [im damaligen Jargon – Transportreklamationen].
Trotz des Verbots für Juden, nach acht Uhr abends auf die Straße zu gehen, nimmt Grete ihr Fahrrad, dreht den Mantel mit dem gelben Stern auf links und geht, um nach ihren Eltern zu sehen. Sie leben mit fünf anderen Familien in einer überfüllten Wohnung. Ihr Vater hat Arbeit in einer Fabrik, in der andere mit gleichem Schicksal arbeiteten. Die Lebensmittelkarten, mit einem großen J gestempelt, erlauben nur den eingeschränkten Kauf von Lebensmitteln. Bald ist es verboten, die Stadt zu verlassen. Dann gilt das Gleiche für einige Viertel, um den Stadtverkehr während der Stoßzeiten zu erleichtern.
Eines Abends, am 28.01.1943, ruft Abraham Samson seine Tochter aus der Telefonzelle an. Er und Frieda würden von der Polizei am nächsten Tag mit ihrem Gepäck abgeholt. „Ich komme“ ruft Grete. „Ich will Euch nicht verlassen. Ich gehe mit ins Lager!“ Aber ihr Vater entscheidet: „Keine Frage, Du musst Dein Leben retten. Es ist nicht gut, wenn Eltern ihre Kinder leiden sehen, noch schlechter ist es wenn Kinder ihre Eltern leiden sehen. Hüte dich. Sei stark. Und esse genug, alles was Du bekommst ohne Rücksicht auf die Religion“.
Grete sieht ihre Eltern nie wieder. Eine Krankenschwester trifft sie noch am nächsten Tag auf dem Bahnhof in Berlin im Waggon-Konvoi nach Auschwitz. Sie gehen direkt in die Gaskammer. Ihr Vater ist 50 Jahre alt, ihre Mutter vierundvierzig. In diesem Alter gibt es kein Entkommen.
Als Grete gewahr wird, dass im Krankenhaus eine neue Liste [des Transports] geschrieben wird, beschließt sie, mit falschen Papieren unterzutauchen. Sie arbeitet in einer Buchdruckerei und hilft einem ebenfalls untergetauchten jüdischen Arzt des Krankenhauses, Dr. Ausbach. Dieser spricht sie an, ein befreundetes (Misch-)Ehepaar wäre bereit, sie zu verstecken. Ihr Gastgeber, Hans Kloska, ist Geiger in der Berliner Philharmonie, seine Frau züchtet Katzen. Grete lebt ruhig in den ersten Monaten des Jahres 1943 mit dem Ehepaar in Tempelhof, Bacharacher Straße 46a, zusammen. Sie geht einkaufen und machte ein wenig den Haushalt.
Durch die Luftangriffe wird es immer schwieriger, so zu leben. Hans Kloska bietet an, sie bei der Familie seines Bruders in einem Bauernhof in der Nähe von Breslau [Beuthen in Oberschlesien] zu verstecken. Diese sind praktizierende Katholiken und sehr nett zu ihr. Sie gehen ein großes Risiko ein, denn jeder, der einem Juden half, würde erschossen und die Mitglieder der Familie deportiert werden. Sie begegnet immer wieder Nicht-Juden, die ihr helfen …
Die Polizei wird eines Tages misstrauisch und Grete muss schnell weg. Sie geht in die Stadt, um den Nachtzug nach Berlin noch zu bekommen, sie verpasst ihn und geht verzweifelt in ein Hotel. Dann sagt sie, kam das bittere Ende. Im Hotel sich aufhaltende Polizisten werden bei ihren Papieren misstrauisch. Mitten in der Nacht, klopfen sie an ihre Tür. „Ich gab zu, dass ich Jüdin war. Und ich wusste, ich war geliefert. Die Gestapo verhört mich drei Wochen, prügelt und foltert. Ich weiß nicht alles was sie mir alles angetan haben“ [Samson Munn]. Aber sie schlagen ihr auf den Kopf und brechen ihr die Füße. Diese Art Fraktur, genannt Lisfranc-, heilt ohne intensive chirurgische Operation nie sauber aus. Grete muss später immer orthopädische Schuhe tragen. Sie verrät nicht, wo sie untergetaucht war. Sie gibt keinen Namen preis. Man schickt sie nach Auschwitz.
Man nimmt ihr die Kleidung weg, den Mantel, in den ihr der Vater ein kleines Geheimfach eingenäht hatte, um Geld zu verstecken. Sie bekommt eine tätowierte Nummer, die 75021, auf den linken Unterarm, die Haare geschoren In diesem Moment hat sie das plötzliche Gefühl, sich selbst zu verlieren, ein Abschied vom Leben.
Ihre Kleider sind eher Lumpen und die Schuhe Holzpantinen. Sie muss in einem Außenkommando Straßen pflastern. Durch das lange Marschieren bekommt sie wunde Füße, die nicht heilen können. Sie geht zum Krankenrevier.“ Gehen Sie weg“, rät ihr sofort ein niederländischer Arzt. „Glauben Sie mir, es ist zu ihrem Besten!“ Grete begreift, dass es besser ist zu gehen. Denn in Auschwitz gehen Kranke ins Gas.
Sie will nicht aufgeben und keine Zeichen von Stress oder Arbeitsunfähigkeit zeigen.“ Ich dachte an das, was mein Vater mir gesagt hatte, und ich zwang mich die faulige Suppe essen.“
Die durchschnittliche Überlebenszeit in Birkenau ist nicht länger als ein paar Wochen. Grete bleibt dort fast ein Jahr. Dank Ihrer beruflichen Pflegekenntnisse weiß sie sich zu schonen. Viele Male ist sie die einzige Überlebende eines Blocks, welcher in die Gaskammer geschickt wird.
Eines Tages sagt man ihr, sie würde mit anderen Krankenschwestern in das Außenlager Gräben des KZ’s Groß-Rosen bei Striegau überstellt werden. Zu ihrer Überraschung wird sie in die Waschküche eingeteilt, wo sie die Wäsche von 350 Häftlingen waschen soll. Trotz der Gewalt der Kapos und der Barackenvorsteher hat sie wieder ein guter Zufall getroffen. Sie bekommt Seife und heißes Wasser und kann sich waschen. Sie muss nicht mehr die Kälte aushalten. Neben der Wäsche verwaltet sie das Gemüselager. Der Gemüselieferant wird ihr Komplize. Gegen Lebensmittelmarken bekommt sie Briefe von Kloska, Freunde bringen ihr regelmäßig die Zeitung. Am Ende des Jahres 1944 hat sie Hoffnung auf Rückkehr. Alle warten, dass die Russen kommen.
Als die Rote Armee näher rückt, müssen alle bei eisiger Kälte in Gewaltmärschen nach Westen. Wer nicht weiter kann wird erschossen. Sie kommen nach Bergen-Belsen. Der Weg dorthin ist mit Leichen gesäumt.
Die Ankunft ist ein Abstieg in die Hölle. Tote und Sterbende lagern dicht an dicht: Der Typhus erreicht auch sie. Grete sinkt zusammen. Es ist zu viel. Der dünne Faden des Lebens reißt, sie rutscht in einen Nebel der Finsternis. Sie weiß nicht wie lange. Als sie die Augen öffnet, ist sie in der Dunkelheit. Sie hat keine Kraft, aber sie ist seltsam gegenwärtig. Sie kann sich nicht bewegen. Körper sind über und unter ihr und um sie herum. Und dann sieht sie: Sie ist in der Mitte eines Leichenhaufens. Sie hört englische Stimmen, von Männern. Sie müssen nahe sein. Dann nimmt sie all ihre Kräfte und ruft: „Sie sprechen Englisch?“
Der Typhus heilt. Sie nimmt ein wenig zu. Und auf Antrag eines jungen englischen Arztes arbeitet sie mit ihm im Lager. Sie machen die Morgenvisite in der ehemaligen SS-Kaserne, die nun Krankenstation ist. Sie suchen bis in alle Ecken des Barackenlagers, um Überlebende zu entdecken. Es waren so viele Menschen, so viele Leichen, so viele Gräber. 700 Tote werden auf dem Boden gefunden.
Sie ist nützlich, denn sie spricht Englisch und Deutsch. Grete wird immer gerufen, wenn Madame Montgomery, die schöne Schwester des Generals, und Kollegen des britischen Roten Kreuzes zu den Deportierten kommen.
Ein Ereignis noch, es niederzuschreiben der Verfasser zuerst zögert: Grete geht – schon weitgehend körperlich wiederhergestellt – in ein Kino in das nahe Bergen. Die Vorstellung ist nur schwach besucht. Zwei Männer fallen über sie her und vergewaltigen sie ungestört. Sie hätten die Nummer auf dem Unterarm gesehen. Es wäre ihr gutes Recht, als Jüdin sei sie dafür da.
Sie fährt nach Aurich, ihrem Geburtsort. Sie glaubt, ohne ihre Familie dort leben zu können. Sie kehrt jedoch freiwillig nach Belsen zurück. Zuvor ist ihre Schwester [Herta] aus England gekommen. Sie findet eine Stelle als Oberschwester im amerikanischen Lager Feldafing. Sie bleibt ein Jahr dort.
Grete Samson fängt ein neues Leben an. Zuvor geht sie am 10. März 1947 in Bremerhaven an Bord des Truppentransporter ERNIE PYLE mit Ziel New York. An Bord Hunderte von weiteren Immigranten. Wir waren alle seekrank!
Beim Ankommen in New York, das Schiff läuft an einem frühen Freitagmorgen im April 1947 ein, hat sie nichts als verschleierte Augen und ihren kleinen Koffer. Und die Idee, eine Familie aufzubauen. Denn ihre aus Deutschland ist vergast worden. Seitdem will sie leben. Gewissenhaft, als Pflicht, gegenüber denjenigen, die nicht diese Wahl haben. Sie ist überzeugt, durch hartes Arbeiten könne sie schließlich ein paar Erinnerungen zerstreuen.
Sie bezahlt den Preis der Reise, arbeitet unermüdlich und nimmt ein Darlehen für Abendunterricht. „Ich wollte mir ein ganz neues Leben aufbauen.“ Sie lernt Ben Monznik kennen, einen polnischen Juden, im Jahr 1912 geboren, ein Überlebender des KZ’s Lodz. Sie heiraten im Jahre 1948 und sie nimmt den Namen Munn an. Alan Jacob wird 1949 und Charles Samson im Jahr 1952 geboren.
Bald jedoch kommen Erinnerungen an Schreie, Befehle, beleidigende Angriffe. Stimmen schreien im Kopf: Raus hier u.s.w.. Diese Halluzinationen kommen zu jeder Tageszeit, nicht nur in Albträumen der Nacht. Sie versucht, ihre störende und elende Angst loswerden. Aber das Leben ist verrückt und unkontrollierbar. Sie hätte es wissen müssen. Es gibt keinen Radiergummi, der dies entfernt. Eines Tages stellt ein Psychiater dann die schreckliche Diagnose „Schizophrenie“ – und verordnet Medikamente. Diese zerstören Grete. Ihr Aussehen ist versteift, ihr Mund beginnt leicht zu zittern, ihre Rede wird immer mehr chaotisch.
An einem Abend im Sommer 1965. Zum zweiten Mal verliert sie ihre Familie. Es folgt die Scheidung, die Kinder leben nicht bei ihr. Sie verliert ihren Job, muss ihr Haus verkaufen. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich weiter, sie findet sich auf der Straße wieder.
Eines Tages sammelt sie das letzte Geld und kauft eine einfache Fahrt nach Berlin. War das nicht das Land ihrer Kindheit? Sie landet auf dem Flughafen in Berlin und weiß nicht wohin.
Grete Munn geht es bald wieder gut. Ihr Sohn ist in ihrer Nähe. Sie hat Kontakt zu Nachbarn in Aurich, die Papiere ihrer Familie gerettet haben. Und auch die Familie Kloska lädt sie jedes Jahr zu Weihnachten in Deutschland ein. Die Nazi-Stimmen sind immer noch da. Aber sie bekommt keine Panik mehr. Sie hat gelernt, damit zu leben. Die Stimme ihres Sohnes, auch die des Anrufbeantworters, reicht aus um sie zu beruhigen.
Sie stirbt am 26. 2. 2014 in Boston. Ihr Sohn erinnert sich: Stets freundlich, nie ärgerlich, mit weicher Stimme. Ich erfuhr nie, dass sie mit anderen im Streit war. Sie hatte viele enge Freunde und Freundinnen, die sie alle mochten. Als ich ein halbes Jahr alt war, kam ein Rabbi, Alfred Holstein, ein Überlebender des KZ’s Lodz zu ihr. Er sucht für ein Ehepaar, auch Überlebende, die Frau war schwer krank, eine Familie, die ihr Baby aus diesen Umständen aufnehmen würde. Julie Holstein wuchs mit mir als „Zwillingsschwester“ bis zum sechsten Lebensjahr auf. Danach konnte sie zu ihrer Familie zurückkehren.
Grete war eine liebevolle Mutter, zu Alan, zu Julie und zu mir. Ich wurde nie geschlagen, nicht ein einziges Mal. Sie hatte ein wunderbares tiefes Bauchlachen. Sie beschwerte sich nie über ihre Gehschwierigkeiten. Natürlich brauchte sie immer so sonderbare plumpe Schuhe. Als Kind wusste ich nicht warum.
Träfe man sie auf der Straße, sie würde unbedeutend wirken. Eben weich, dick, vielleicht schwach, aber sehr freundlich und immer hilfsbereit. Sie ist eine Hintergrundperson, niemals vorne, würde man sagen. Kaum einer wüsste: Sie ist innerlich wahrhaft außergewöhnlich. Sie dürfte irgendwie die Klügste von uns gewesen sein.
 Das Foto erhielt Günther Lübbers von Dr. Samson Munn. Es entstand im Juli 1958 im Hafen von New York an Bord eines kurz danach nach Argentinien auslaufenden Schiffes. Samson (Bildmitte) besuchte mit seiner Mutter Grete (3. von links) unter anderem Siegfried Wolff (links) und Eva Wolff (rechts).
 Die Stolpersteine vor dem Haus Wallstraße 22
 Dr. Samson Munn (Bildmitte) mit Ehefrau Rachel und den Kindern Amalia und Saul nahmen in Begleitung einer befreundeten Familie aus Berlin sowie Joan Chantrell aus England an der Verlegung teil. |